Demokratie erlernen und erleben

Warum Klassenfahrten unverzichtbar sind

Beitrag von Prof. Dr. Nina Kolleck

Kinder und Jugendliche wollen mitbestimmen – wenn man sie lässt. Studien zeigen, dass junge Menschen sich stärker gesellschaftlich engagieren, wenn sie früh demokratische Teilhabe erleben. Doch in Schulen bleibt Mitbestimmung oft abstrakt oder auf kleinere Entscheidungen beschränkt. Das hat Folgen: Jugendliche, die kaum Mitbestimmung erfahren, zeigen weniger Vertrauen in demokratische Prozesse und sind anfälliger für populistische oder extremistische Strömungen. Gleichzeitig gewinnen rechtspopulistische Bewegungen an Einfluss, und Verschwörungsmythen verbreiten sich zunehmend unter jungen Menschen.

Demokratie erfahrbar machen – die Rolle von Klassenfahrten
Das Problem ist, dass junge Menschen kaum erlebt haben, was es bedeutet, sich aktiv in der Demokratie zu beteiligen. Zwar gilt Demokratiebildung als Kernaufgabe von Schulen, doch in der Praxis bleibt sie oft ein Randthema – entweder auf den raren Politikunterricht beschränkt oder als Querschnittsthema ohne festen Platz im Curriculum. Zudem sind die Mitbestimmungsrechte von Schülerinnen und Schülern in Schulen oft stark begrenzt. Demokratie muss jedoch erfahrbar sein, um nachhaltig zu wirken. Klassenfahrten bieten genau diese Möglichkeit.

Demokratie ist weit mehr als Wahlsysteme und Institutionen. Sie entfaltet sich im gemeinsamen Aushandeln, im Austausch unterschiedlicher Perspektiven und im respektvollen Umgang mit Vielfalt. Doch um diese Prinzipien zu verinnerlichen, reicht theoretisches Wissen nicht aus – sie müssen erlebt werden. Klassenfahrten schaffen genau diesen Rahmen: Schülerinnen und Schüler treffen gemeinsame Entscheidungen, übernehmen Verantwortung und lernen, sich außerhalb der gewohnten Strukturen selbstständig zu organisieren. Abseits des Schulalltags setzen sie sich mit neuen Situationen auseinander, begegnen Herausforderungen und erproben ihre Fähigkeit zur Kooperation.

Vor allem in heterogenen Gruppen entstehen wertvolle Lerneffekte. Unterschiedliche Meinungen und Bedürfnisse fordern heraus, Konflikte müssen nicht abstrakt diskutiert, sondern im Miteinander gelöst werden. Solche Erfahrungen stärken nicht nur das Verständnis für demokratische Prozesse, sondern fördern auch die soziale Kompetenz und Teamfähigkeit der Jugendlichen.

Die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (2023) betont deshalb, dass Demokratiebildung nicht auf den Klassenraum beschränkt bleiben darf. Gerade außerschulische Lernorte, wie sie Klassenfahrten bieten, sind entscheidend, um Demokratie nicht nur zu lehren, sondern sie erfahrbar zu machen.

Extremismusprävention und kritisches Denken
Ein weiteres Argument für Klassenfahrten: Im Idealfall fördern sie kritisches Denken und machen junge Menschen widerstandsfähiger gegen extremistische Narrative und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Studien zeigen, dass soziale Erfahrungen und Gruppendynamiken entscheidend dafür sind, ob Jugendliche demokratische Werte verinnerlichen oder für radikale Ideologien anfällig werden.

Besuche von Gedenkstätten, Parlamenten oder politischen Bildungsstätten ermöglichen es jungen Menschen, sich aktiv mit Geschichte und Gesellschaft auseinanderzusetzen. Doch auch informelle Gruppenerlebnisse und Diskussionen während einer Reise können nachhaltige Wirkungen entfalten.

Ein Beispiel: Eine Schülergruppe nimmt während einer Klassenfahrt an einem Planspiel zur EU-Politik teil. Dabei setzt sie sich mit Entscheidungsprozessen auseinander und entwickelt ein Verständnis für verschiedene Perspektiven. Studien dazu legen nahe, dass solche partizipativen Formate das politische Interesse und die demokratische Kompetenz junger Menschen stärken können.

Mehr als nur ein „Ausflug“: Klassenfahrten als bildungspolitische Notwendigkeit
Trotz ihres pädagogischen Werts geraten Klassenfahrten zunehmend unter Druck. Bürokratische Hürden, steigende Kosten und der Fokus auf standardisierte Lernziele führen dazu, dass immer mehr Schulen auf sie verzichten. Doch wenn Demokratiebildung ernst genommen wird, darf außerschulisches Lernen nicht als „Extraschleife“ betrachtet werden, sondern muss strukturell verankert sein.

Besonders in Bundesländern wie Berlin zeigt sich die Problematik deutlich: Aufgrund von Sparmaßnahmen dürfen dort vorerst keine neuen Klassenfahrten gebucht werden. Bereits geplante Fahrten wurden schulübergreifend abgesagt, da Zuschüsse für Lehrkräfte sowie Förderungen für sozial schwächere Familien gestoppt wurden. Dies trifft insbesondere Kinder aus finanziell benachteiligten Haushalten hart, da Klassenfahrten oft die einzige Möglichkeit bieten, neue Erfahrungen außerhalb ihres gewohnten Umfelds zu sammeln.

In Zeiten wachsender demokratischer Herausforderungen kann sich das Bildungssystem nicht leisten, Demokratiebildung als Randthema zu behandeln. Klassenfahrten sind keine netten „Extras“, sondern ein unverzichtbarer Bestandteil schulischer Demokratieförderung.

Lernen fürs Leben bedeutet, junge Menschen auf ihre Rolle als mündige Bürgerinnen und Bürger vorzubereiten. Demokratie beginnt nicht erst an der Wahlurne – sie beginnt mit der Erfahrung von Mitbestimmung, Verantwortung und sozialem Miteinander. Und genau das können Schülerinnen und Schüler besonders gut dort lernen, wo Schule auf die Realität trifft: auf Klassenfahrt.

Nina Kolleck ist Professorin für Erziehungs- und Sozialisationstheorie an der Universität Potsdam. Zuvor hatte sie Professuren an der FU Berlin, der Universität Leipzig, sowie Gastprofessuren an der University of British Columbia in Vancouver, der University of California, Berkeley, der Hebräischen Universität Jerusalem sowie der Tel Aviv Universität inne. Sie ist Mitglied in unterschiedlichen Beiräten, u.a. wurde sie in die Initiative für einen handlungsfähigen Staat unter Schirmherrschaft des Bundespräsidenten Frank-Walther Steinmeier berufen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Sozialisation, Jugend, Demokratiebildung, Bildungspolitik, soziale Netzwerkanalyse und Verschwörungserzählungen.